Sonntag, 16. April 2017

Alltagsmomente - Stimmen

Wenn Stimmen Menschen zeichnen

Menschen, die mich jeden Tag begleiten oder mit denen ich viel zu tun habe, erkenne ich an ihren Stimmen. Wenn man sie, wie ich, im vorherigen Leben gesehen hat, weiß man auch noch ungefähr wie sie aussehen. Kinder wachsen und verändern sich und andere Menschen werden älter, dazu gehören graue Haare und Falten, aber in meiner Erinnerung bleiben sie immer so, wie ich sie zum letzten Mal gesehen habe.


Im September 2010 fuhren wir zusammen mit Sabine und Michael nach Spanien in den Urlaub. Sabine und Michael sind Nachbarn und immer noch gute Freunde, die ich aus meinem alten Leben mitgenommen habe und die immer für mich da sind, trotz meiner Sehbehinderung.

Die Fahrt mit Michaels Autor nach Spanien dauerte knapp dreizehn Stunden. Wir hatten uns in Empuriabrava ein wunderschönes, ebenerdiges und behindertengerechtes Haus mit Pool gemietet. Sabine und Michael waren schon mehrfach an diesem wunderschönen Urlaubsort gewesen, deshalb kannten sie auch Andy, einen Saarländer, der dort schon sehr lange lebt und der ein schönes Lokal dort betreibt, in dem man auch Saarländer antreffen kann.

Eines Abends gingen wir zu Andys Lokal. Wir setzen uns draußen hin und ich fühlte mich direkt wohl. Die Sonne schien, es war warm und wir hatten viel Spaß. Dann kam Andy aus der Kneipe und trat an unseren Tisch. Ich habe diesen Mann in meinem vorherigen Leben noch nie gesehen. Er begrüßte Sabine und Michael und stellte sich uns vor.

Oh mein Gott, dachte ich, was für eine tolle Stimme!

Wenn jemand eine sympathische Stimme besitzt, hat er bei mir schon gewonnen. Also fing ich an, mir diesen Andy optisch zusammen zu bauen.

Ein bisschen George Clooney, Til Schweiger und Brad Pitt.
Sportlich, Sixpack, dunkle Haare und sonnengebräunt.

Er nahm unsere Bestellung der Getränke auf und verschwand in seinem Lokal. Michael fragte mich, was mit mir los sei und warum ich so grinsen würde? Zur Antwort bekam Michael: Ach, ich habe mir gerade Andy zusammengebaut und ich bin ganz hin und weg von seiner Stimme. Dann komm, schieß los Kerstin, sagte Michael und erzähl uns wie Andy aussieht.

Also schwärmte ich von der Person, die ich mir gerade in Gedanken zusammengebaut hatte. Ein riesen Gelächter brach aus und ich war total verwundert. Ha ha, dachte ich, ich glaube, ich liege mal wieder total falsch. Warum lacht ihr so, fragte ich? Und ich bekam zur Antwort: warte ab, bis Andy zu uns an den Tisch kommt.

Andy kam wieder zu uns an den Tisch und fragte: Was ist hier los? Warum lacht ihr so? Michael sagte ihm, dass ich ihnen gerade beschrieben hätte, wie ich ihn mir vorstellen würde. Andy sagte: Komm steh auf und lass dich überraschen. Ja, ihr Lieben, ich war schon etwas erschrocken. Von wegen George Clooney, Til Schweiger oder Brad Pitt, aber es war mir egal, dass er nicht aussah wie einer der drei Prominenten.

Sich jemanden vorzustellen, wenn man ihn noch nie gesehen hat, ist schon schwierig. Sehende Menschen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, gehen sehr oft nach dem Äußeren. Blinde Menschen gehen nach der Stimme und dabei ist es ihnen egal, wie derjenige aussieht.

Ich bin Weltmeisterin im zusammenbauen anderer Personen, aber ich liege fast immer daneben und es gab schon einige Situationen, in denen man mich sehr auslachen musste.

Eure Kerstin


Anmerkung:



Dieser Beitrag enthält ein schwarz-weiß Bild. Es zeigt einen weißen Hintergrund und vier schwarze Strichmännchen, wie man sie laienhaft zeichnet.


1 Kommentar:

  1. Hallo Kerstin,
    ich könnte mir schon vorstellen, dass Du Andere Leute besser erkennst als wir sehende. Wir lassen uns durchs Aussehen oft blenden und schätzen Leute sehr schlecht ein. Denn Du kannst mehr ins "Innere" sehen und das trügt nie.
    Grüßle aus Reutlingen
    Dieter

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